Fallende Bomben und Panzer in den Straßen wieder vor Augen

Pressemitteilung 07. April 2022

Gespräch mit Wilma Prikker (93) und Altenseelsorger Julien Fuchs

Krieg in der Ukraine ängstigt Senioren

Wilma Prikker erinnert sich noch genau an den Artillerie-Beschuss ihres Elternhauses im Zweiten Weltkrieg. Er riss ein Loch in das Dach. Die Ängste von damals sind bei der 93-Jährigen wieder wach geworden, als sie die Nachrichten vom Krieg in der Ukraine hört. Sie fühlt mit den Menschen dort. Die Schuld für das Leid, das angerichtet wird, gibt sie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin: „Dass der Mann nachts noch schlafen kann…“, empört sie sich.

Die alte Dame, die im Seniorenzentrum „ProSenis“ in Leer-Loga lebt, erzählt uns, was der Ausbruch des Krieges in der Ukraine mit ihr gemacht hat. Pastor Julien Fuchs ist beim Gespräch dabei. Als Altenseelsorger des Evangelisch-lutherischen Kirchenkreises Emden-Leer besucht er regelmäßig die Menschen in Leeraner Senioren-Einrichtungen. Zu ihm hat Wilma Prikker Vertrauen und ist froh, mit ihm sprechen zu können.

Im Hohen Weg in Loga ist die Seniorin als Wilma Kassmann aufgewachsen. Zehn Jahre alt war sie, als der Zweite Weltkrieg begann, 16 Jahre, als er endete. Der Beschuss ihres Elternhauses geschah gegen Ende des Krieges. Sie sieht sich noch mit einer ihrer beiden Schwestern mit dem Handwagen unterwegs sein, um Ersatz-Dachziegel zu holen. Es hatte bereits ins Haus geregnet. Nicht weit entfernt war die Kaserne in Leer. Darauf hat sie von zu Hause aus die Bomben fallen sehen.

Was Wilma Prikker auch wieder vor Augen hat, sind Straßen voller Panzer und Soldaten der kanadischen Truppen. Auch an die Angst vor Vergewaltigungen erinnert sie sich. Parallelen jetzt sind die Nachrichten über die Gefahr junger Frauen, nach der Flucht aus der Ukraine Mädchenhändlern in die Hände zu fallen.

Besonders traurig und besorgt wird Wilma Prikker, wenn sie an die Mädchen und Jungen in den zerbombten Gebieten und Bilder aus den Luftschutzkellern denkt. Als Mutter liegen ihr Kinder und Familien sehr am Herzen. Sie weiß auch noch, wie sie an ihrer Familie gehangen hat. Hilfsbereite Nachbarn hatten ihr im Krieg ein Bett im Keller zurechtgemacht, aber sie blieb lieber bei ihren Eltern. Große Hilfsbereitschaft gebe es glücklicherweise auch heute.

Hin- und hergerissen ist die Logaer Seniorin, wenn es um die Fernseh-Nachrichten über das Kriegsgeschehen geht. „Die sind schwer anzugucken“, sagt sie. Abends solle sie die eigentlich besser nicht mehr anschalten, denn sie seien nervlich kaum zu ertragen. Aber manchmal tue sie es trotzdem.

Grundsätzlich ist die 93-Jährige sehr interessiert an dem, was in ihrer Umgebung und in der Welt passiert. Und sie ist tolerant und unterscheidet. So wünscht sie sich, dass Putin nicht an der Macht bleibt. Schuld am Krieg gibt sie aber nicht dem russischen Volk. Dessen Präsident vergleicht sie mit Hitler. Ihr Vater, der schon im Ersten Weltkrieg verwundet wurde, sei ein Gegner dieses Despoten gewesen. „Das russische Volk ist ein friedliebendes Volk“, habe ihr Vater gesagt.

Angst hat Wilma Prikker vor einem dritten Weltkrieg. „Es muss irgend etwas kommen, um das zu verhindern“, sagt sie und hofft, dass Verhandlungen etwas bewirken.

Dass der Krieg bei vielen alten Menschen schlimme Erinnerungen weckt, bekommt Pastor Fuchs in vielen Gesprächen zu hören. Die Reaktionen seien durchaus unterschiedlich, sagt er. Bei vielen Senioren spüre er eine Mischung aus Interesse und dem Wunsch, Erlebtes zu verdrängen. Damit gerieten sie in einen inneren Zwiespalt.

Seine Gesprächspartner hielten auch nach Lösungen Ausschau, erzählt der Altenseelsorger. Oft höre er den Satz „Das ist Putins Krieg“ und den Wunsch, dieser möge nicht an der Macht bleiben. Viele Frauen und Männer mit Kriegserfahrungen machten sich keine Illusionen. Sie seien selbst durch eine harte Schule gegangen und beurteilten dem entsprechend die Situation. Immer wieder würden Parallelen gezogen und festgestellt, dass sich Geschichte wiederhole. Eigentlich müssten Menschen doch daraus gelernt haben. Leider sei dem nicht so. Er könne den Senioren die Ängste nicht nehmen, ihnen aber helfen, indem er zuhöre.